In ihrem kurzen Statement lässt Polizistin Silke Anders das Geschehen am 31. Juli 2024 kurz Revue passieren. Per Notruf wurde eine mutmaßlich verwirrte Frau auf einem Wohnmobilstellplatz in Scharbeutz gemeldet. Dort traf die Polizeistreife auf eine damals 32-jährige Frau. Die zweifache Mutter war stark alkoholisiert und machte sich Sorgen um ihre Kinder. Ein längeres Gespräch. „Ich hatte einen guten Draht zu der Dame aufgebaut“, sagt Anders.
Man fuhr gemeinsam im Streifenwagen an den noch recht vollen Strand. Die Lautsprecherdurchsagen waren erfolgreich. Eine andere angetrunkene Frau kam winkend auf das Fahrzeug zu. Plötzlich sei die Stimmung umgeschlagen. Zwischen den beiden Frauen entbrannte ein aggressiver Streit.
Die Stimmung kippte. Die 32-jährige Frau sollte aufgrund ihres Zustandes nun in den Polizeigewahrsam nach Lübeck gebracht werden. Während der Fahrt löste die Frau immer wieder den Gurt, um sich auf der Rückbank des Kleinbusses hinzulegen. Die Polizistin saß diagonal gegenüber. „Sie hat sich abschnallt, ich habe sie angeschnallt. Schließlich bin ich etwas lauter geworden.“
Plötzlich habe sich die Situation schlagartig geändert. „Die Augen waren binnen einer Sekunde von trüb auf klar. Dann hat sie ein Bein hochgezogen wie eine Kickboxerin.“ Der Tritt der vermeintlich hilflosen Person traf die Polizistin mit voller Wucht ins Gesicht. Dann traktierte sie die Beamtin mit Faustschlägen. Im Handgemenge kommt es zu einer Sehnenverletzung eines Fingers der rechten Hand. Mit vereinten Kräften gelingt es den Beamten, die zierliche Angreiferin zu fixieren.
Auch in der Ausnüchterungszelle kann sich die Angreiferin kaum beruhigen. Mit bloßen Füßen habe sie immer wieder gegen die Stahltür getreten. „Es war schon beeindruckend, welche Kraft dahinter steckte.“ Die 50-jährige Polizeibeamtin erlitt Jochbeinbruch, Kieferfraktur und weitere Verletzungen. Sie musste im Krankenhaus behandelt werden, war vier Monate dienstunfähig. Die körperlichen Verletzungen sind weitgehend verheilt. Die Beweglichkeit eines Fingers bleibt wohl eingeschränkt.
Auch psychisch habe sie das Geschehen aufgearbeitet, habe die Lage im Fahrzeug mit einem Polizeitrainer mehrfach durchgespielt. Ergebnis: „Ich hatte keine Chance. Die Situation im Auto ist eine ganz Besondere.“ Mit diesem Wissen konnte sie die Schublade schließen. „Ich habe Monate gekämpft, um meinen Traumberuf wieder ausüben zu können“, sagt Anders. Das habe auch funktioniert.
Bis zur Gerichtsverhandlung, bei der die Schublade mit voller Wucht aufgegangen sei. „Zu dem Urteil möchte ich nichts sagen“, erklärt Anders. In der Nacht nach dem Freispruch wurde sie mit den typischen Symptomen eines Schlaganfalls vom Notarzt in eine Spezialklinik gebracht worden. Der Verdacht bestätigte sich nicht. Es war ein psychosomatischer Schock. Drei Tage später kam ein Hörsturz hinzu.
Kurze Zeit habe sie gedacht, sie befinde sich in einem tiefen Loch und es werde nicht wieder. „Aber es wird wieder – und ich werde nicht in irgendeinem Büro verschwinden, sondern auf der Straße weiterarbeiten“, sagt sie.
Um den seelischen Heilungsprozess zu unterstützen, überreichten die HUPF-Vorstandsmitglieder Andreas Breitner, Karl-Hermann Rehr und Wolfgang Pistol der Polizeibeamtin einen Zuwendungsbescheid für einen siebentägigen Kuraufenthalt im Erzgebirge. „Wir sind uns im Klaren, dass unsere Unterstützung weder eine Verarbeitung des Erlebten noch eine Wiedergutmachung darstellt, sie ist aber ein wichtiges Zeichen gesellschaftlicher Solidarität“, erklärte Breitner.
HUPF ist eine gemeinnützige Einrichtung, die 2001 gegründet wurde, um die Angehörigen eines im Einsatz getöteten Polizisten zu unterstützen. Zudem erhalten auch im Dienst schwer verletzte Polizeibeamte und deren Familien angemessene Hilfen. Seit seinem Bestehen hat der spendenfinanzierte Fonds in mehr als 360 Fällen Unterstützung im Wert von 320.000 Euro geleistet.
Mit diesen Aktionen will der HUPF-Vorstand darauf aufmerksam machen, welche Gefahren der Dienst birgt und ein Zeichen für mehr Schutz der Beamten setzen. So wurden 2024 in Schleswig-Holstein insgesamt 1533 Straftaten gegen Polizisten registriert, im Durchschnitt landesweit also mehr als vier Übergriffe pro Tag.
Nicht zuletzt angesichts dieser Entwicklung hofft Breitner, dass der Freispruch im Berufsverfahren revidiert wird. „Wenn jemand in der Lage ist, mit einem gezielten Fußtritt zu treffen, ist er auch schuldfähig – zumindest eingeschränkt.“