April 1945: Volksgerichtshof ziehtvon Berlin nach Bad Schwartau um
Über die letzten Tage der Unrechtsjustiz der Nazis ist wenig bekannt – Stadtarchivar hat wichtigen Hinweis gefunden.

Stadtarchivar Sven Reiß schaute sich die Kartons mit den alten Karteikarten des Meldeamtes genauer an. .Fotos: Susanne Peyronnet
Bad Schwartau. Die Quellenlage ist dünn, sehr dünn: Im April 1945 ist der Volksgerichtshof von Berlin nach Bad Schwartau verlegt worden. Ein paar rudimentäre Quellen hat der Bad Schwartauer Stadtarchivar Sven Reiß aber ausgegraben. Und er findet sogar Belege, dass sich zumindest einer der damaligen Juristen nach Kriegsende unter seinem echten Namen in der Stadt niederließ – und unbehelligt blieb: Felix Parrisius.

Reiß stößt bei einer Google-Suche zum Amtsgericht Bad Schwartau auf die Verbindung zum Volksgerichtshof. Also macht er sich auf Quellensuche in der Fachliteratur und im eigenen Bestand. „Zum Volksgerichtshof gibt es schon wenig, aber dazu kaum etwas“, muss Reiß feststellen.

Aber wie es sich für einen Archivar gehört, lässt er in seiner Suche nicht nach. Und wird im eigenen Keller fündig. Die Kartei des Bad Schwartauer Meldeamtes mit den Daten von 1934 bis 1955 lagert dort. Reiß sucht nach allen Namen, die im April 1945 in Verbindung zum Volksgerichtshof stehen. Und findet Parrisius. Der hat sich unter seinem Klarnamen angemeldet, als Beruf aber Kaufmann angegeben. Der Mann ist beim Volksgerichtshof kein kleines Licht. Er hat das Amt des stellvertretenden Oberreichsanwalts inne und ist damit zweithöchster Ankläger beim Volksgerichtshof. Dem Volksgerichtshof, der unter seinem Präsidenten Roland Freisler Angst und Schrecken verbreitet. Der die Widerstandskämpfer von Sophie Scholl bis Julius Leber reihenweise zum Tode verurteilt. Der die Schauprozesse gegen die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 führt.

Ungefähr 90 Prozent aller Verfahren unter Freisler enden mit einer oft vor Prozessbeginn feststehenden Todesstrafe oder mit lebenslanger Haft. Zwischen 1942 und 1945 werden mehr als 5000 Todesurteile gefällt. Doch der „Blutrichter“ genannte Freisler wird nie zur Verantwortung gezogen: Im Februar 1945 kommt er bei einem Bombenangriff ums Leben. Da tagt der Volksgerichtshof noch in Berlin. Nachfolger von Freisler wird Harry Haffner. Am 24. April setzt er sich ab und versucht, den Volksgerichtshof in Bad Schwartau neu zu etablieren. Zuvor hatte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel festgestellt, dass im belagerten Berlin für die Organe der Rechtspflege nichts mehr zu tun sei. Also nichts wie weg. Wohin? Erst nach Schwerin, dann nach Bad Schwartau.

Haffner schildert in einem biografischen Bericht den Umzug nach Schleswig-Holstein. „Durch Keitels Vermittlung ist es mir gelungen, zwei Fahrzeuge (Last- und Personenwagen) zu beschaffen … In den letzten Apriltagen haben dann beide Wagen vollbesetzt Berlin verlassen und sind – übrigens wieder in letzter Stunde – durch die Front bei Nauen nach Schwerin gefahren.“

Die letzte Reichsregierung hatte sich mittlerweile nach Eutin abgesetzt. Von dort kommt die Weisung des Justizministers, den Volksgerichtshof in Bad Schwartau einzurichten.

„Wohl haben der Oberreichsanwalt (Ernst Lautz, d. R.) und ich uns mit den Resten unserer Gefolgschaft nach Schwartau begeben, weil Schwerin völlig überfüllt war. In Schwartau sind wir von englischen Truppen überrollt worden“, erinnert sich Haffner weiter. Am 2. Mai rücken erst belgische, dann britische Soldaten in die Stadt ein.

Erinnerungen an diese Zeit sind teils widersprüchlich, sagt Archivar Reiß. „Zeitzeugen können sich auch irren. Es gibt keine vernünftigen Quellen“, schildert er das Dilemma. „Alle Seiten kriegen etwas durcheinander.“ Zudem streiten die Juristen des Volksgerichtshofes nach Kriegsende alles ab.

Klar scheint zu sein, dass der Volksgerichtshof etwa eine Woche in Bad Schwartau arbeitet, bevor die Stadt eingenommen wird. Ob in dieser Zeit Urteile gefällt werden, ist ebenso fraglich wie vieles andere an dieser Geschichte. In ihrem Buch „Rote Großmütter“ berichtet die Schriftstellerin und Zeitzeugin Gerda Zorn, der Volksgerichtshof habe am 21. April in Bad Schwartau zwei Frauen zum Tode verurteilt und sofort nach Bützow zur Hinrichtung bringen lassen. Zorn schreibt, sie seien gerettet worden.

Unterdessen versuchen sich auch die Täter zu retten. Harry Haffner und seine Frau wandern zunächst umher, kommen schließlich nach Sontra (Hessen), wo sie sich unter falschem Namen anmelden, so wie andere auch. Einzig Felix Parrisius bleibt mit seiner Frau unter seinem richtigen Namen in Bad Schwartau und meldet sich unter der Adresse Riesebusch 9 an. 1972 zieht er in die Hohelandstraße in Lübeck und stirbt 1976. „Die Aufgabe des Volksgerichtshofes ist es nicht, Recht zu sprechen, sondern die, die Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten.“ So definiert Parrisius 1938 die Aufgabe des verbrecherischen Sondergerichts der Nazis. Er wird 1947 von den Amerikanern vernommen, das Ermittlungsverfahren gegen ihn aber eingestellt. SAS



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