Häusliche Gewalt: Polizei fährt jeden Tag drei Einsätze
Alarmierende Zahlen in Lübeck und Ostholstein – Kampagne mit Bodenaufklebern soll für das Thema sensibilisieren.

Simone Sölter (vorne li.) und Natalie Lessin präsentieren zusammen mit Netzwerk-Partnerinnen den Bodenaufkleber, der vor zahlreichen Einrichtungen auf die Kampagne hinweisen wird.Foto: Roeßler
Lübeck. Ein Morgen im Autonomen Frauenhaus, wie es hier schon viele gab: Alicja Knietniewski nimmt innerhalb von einer Stunde zwei Hilferufe von schutzsuchenden Frauen entgegen. „Wir können beide Frauen nicht aufnehmen“, berichtet die Frauenhaus-Mitarbeiterin, die seit 26 Jahren in der Einrichtung beschäftigt ist. „Bis Ende Oktober mussten wir schon mehr als 500 Frauen und Kinder abweisen.“

Lübeck ist landesweit die Hochburg bei den bekannten Fällen von häuslicher Gewalt, in Ostholstein sind die Zahlen im vergangenen Jahr stark gestiegen. Immer mehr Frauen trauen sich, ihre Peiniger anzuzeigen. Das zeigen die Zahlen von Dorothea Skupsch von der Erstberatungsstelle bei häuslicher Gewalt, die im Awo-Frauenhaus angesiedelt ist. Bis November 2024 wurden 430 Fälle von der Polizei an die Erstberatung gemeldet, bis November 2025 schon 609.

„Der gefährlichste Ort für Frauen ist das Zuhause“, sagt Simone Sölter von der Präventionsstelle der Polizeidirektion Lübeck. 1135 Opfer von häuslicher Gewalt habe es im vergangenen Jahr gegeben. „Die Polizei fährt jeden Tag drei Einsätze“, erklärt die Beamtin. „Alle acht Stunden gibt es ein neues Opfer.“

Die Polizei kann mit Kontaktverboten, Fußfesseln und Wegweisungen reagieren. Fußfesseln seien in Lübeck und Ostholstein noch nicht zum Einsatz gekommen. Es habe 2024 aber 384 Wegweisungen gegeben. Täter dürften sich dann bis zu vier Wochen nicht der Wohnung ihrer Opfer nähern.

Um die Öffentlichkeit für die hohen Fallzahlen zu sensibilisieren, starten die Polizei und das KIK-Netzwerk Lübeck, zudem Frauenhäuser, Beratungsstellen, Jugendamt, Familiengericht, Pro Familia und das Kinderschutzzentrum gehören, eine Kampagne. Bodenaufkleber werden vor zahlreichen Einrichtungen wie Jobcenter, UKSH, Uni Lübeck oder DRK-Krankenhaus aufgeklebt. Vom 21. November bis zum 10. Dezember – parallel zu den Orange Days, die weltweit auf das Thema aufmerksam machen.

„Wir wollen die Menschen über das Thema stolpern lassen“, sagt Simone Stölter. „Wir wollen die Betroffenen ermutigen, sich Hilfe zu holen, wir wollen Zeugen zur Zivilcourage auffordern, und wir wollen erreichen, dass Täter sich frühzeitig Hilfe holen.“

Mit Tätern arbeitet die Fachambulanz Gewalt von Pro Familia in der Fackenburger Allee. In Gruppensitzungen von bis zu acht Teilnehmern erarbeiten die Gewalttäter Strategien, um Gewalt künftig zu vermeiden. „In der Regel weisen die Gerichte die Teilnehmer zu“, erklärt Thomas Jelinski von Pro Familia. Die 17,5 Wochenstunden, die die Beratungsstelle für Lübeck und Ostholstein dafür zur Verfügung habe, würden aber nicht reichen.

Das Kinderschutzzentrum arbeitet mit den Familien, in denen es zu Gewalt gekommen ist. Zumeist weist das Jugendamt diese Familien zu. 262 Neuanmeldungen habe es 2024 gegeben, berichtet Akos Lisius vom Kinderschutzzentrum: „70 Fälle davon betrafen das Thema häusliche Gewalt.“

Dass Lübeck und Ostholstein steigende Fallzahlen aufweisen, habe vor allem mit der intensiven Zusammenarbeit von Polizei und Beratungsstellen sowie Frauenhäusern zu tun, sagen die Vertreterinnen des KIK-Netzwerkes Lübeck. „Die betroffenen Frauen haben Vertrauen zur Polizei.“

Seit Februar 2024 greift landesweit in besonders schweren Fällen von häuslicher Gewalt das sogenannte Hochrisikomanagement, mit dem besonders gefährliche Täter identifiziert und frühzeitig angesprochen werden. Aber auch dieses Instrument stoße an seine Grenzen, sagen die Expertinnen und Experten. Auch das Hochrisikomanagement könne Tötungsdelikte in den häuslichen vier Wänden nicht immer verhindern. dor
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