Doch das ist für die jüdische Gemeinde noch das geringste Problem. Rabbiner Nathan Grinberg führt den Besucher aus der Kapelle auf den Friedhof, auf dem die Füße im knöchelhohen Gras und zwischen alten Blättern noch viel älterer Bäume versinken. Der Weg führt rechts neben die Kapelle zum Wärterhaus.
„Das Wärterhaus ist völlig hinüber“, sagt Karl-Heinz Haase, Mitglied einer Unterstützergruppe, die der jüdischen Gemeinde bei der Rettung des Friedhofs unter die Arme greifen möchte. „Wir sind da mal rein, das war unter Lebensgefahr. Balken lagen schon kreuz und quer am Boden.“
Außerdem steht an der Niendorfer Straße ein Bauzaun vor der Friedhofsmauer aus rotem Backstein. Seit Kurzem wird sie auf der Friedhofsseite von massiven Balken gestützt.
Welche Bedeutung hat das Areal generell? „Der jüdische Friedhof in Moisling ist nicht nur einer größten erhaltenen in ganz Schleswig-Holstein“, teilt Nicole Dorel mit, Pressesprecherin der Stadt. „Überdies ist er auch mit seiner gut 350-jährigen Geschichte einer der ältesten jüdischen Friedhöfe im Land und damit ein herausragendes religions-, stadt- und familiengeschichtliches Dokument.“
Er sei mit seinen mehr als 1000 individuellen Grabstätten, der Friedhofskapelle, dem Wächter- und Gerätehaus sowie der die Anlage einfassenden Friedhofsmauer im Jahr 2002 in das Denkmalbuch der Hansestadt Lübeck und mit Novellierung des Denkmalschutzgesetzes Schleswig-Holstein im Jahr 2014 in die Denkmalliste der Hansestadt Lübeck eingetragen worden, heißt es von der Stadt Lübeck.
Nathanja Hüttenmeister, Judaistin am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, hebt noch einen anderen Aspekt hervor: „Der Friedhof hat außerdem eine besondere Bedeutung, da dort Passagiere der ‚Exodus' liegen“, sagt sie.
Das Schiff, das später „Exodus“ genannt wurde, war 1947 von Südfrankreich nach Palästina aufgebrochen. An Bord drängelten sich 4500 Menschen, die das Dritte Reich und den Holocaust überlebt hatten.
Palästina stand zu dieser Zeit unter dem Mandat der Briten. Und Großbritannien wollte die weitere Einwanderung von Jüdinnen und Juden in das Gebiet verhindern. Britische Soldaten enterten das Schiff und verweigerten den Holocaust-Überlebenden im Hafen von Haifa die Einreise.
Doch damit nicht genug: Die Briten brachten die Passagiere letztlich zurück nach Deutschland. Über den Hamburger Hafen wurden die Juden und Jüdinnen der „Exodus“ in das Lager Pöppendorf im Waldhusener Forst gebracht - nördlich von Kücknitz. Umgeben von Wachtürmen und Stacheldrahtzaun.
Für die Unterstützergruppe um Karl-Heinz Haase geht es nicht nur um den Erhalt Lübecker Stadtgeschichte und mit Blick auf die „Exodus“ um Weltgeschichte, sondern auch um den Kampf gegen aktuellen Antisemitismus.
„Was sollen junge Menschen lernen, wenn sie dort vorbeigehen und sehen, dass eine jüdische Immobilie völlig verfallen ist?“, fragt Haase. „Kinder, die vielleicht von ihren Eltern noch rassistisch beeinflusst werden, sehen dann vielleicht das ‚Minderwertige'."
Teile der jüdischen Gemeinde in Lübeck hatten bei einem Treffen mit der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft im Sommer 2023 um Hilfe bei der Sanierung des Friedhofs gebeten. Daraufhin gründete sich die Unterstützergruppe um ehemalige und immer noch aktive Kommunalpolitiker. Zusammen wollte man Verantwortung für die Rettung der Anlage übernehmen, auf ihren desolaten Zustand hinweisen und Geldgeber finden.
Doch wer letztendlich verantwortlich für das Areal ist, scheint nicht immer ganz deutlich zu sein – je nach Gesprächspartner. Die Hansestadt, das Land oder die jüdische Gemeinde? Für die Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein ist der Fall hingegen klar.
„Wir sind seit 2013 Eigentümerin des Friedhofs in Moisling”, sagt Igor Wolodarski, Vorsitzender des Landesverbandes in Kiel. Vor diesem Hintergrund spricht der Verband mit Entscheidern an verschiedenen Stellen, so zum Beispiel mit der Denkmalpflege in Lübeck oder Stiftungen.
Vor ein paar Wochen sei man mit Vertretern der Possehl- und Reemtsma-Stiftung zusammengekommen, um über den Friedhof zu reden, sagt Wolodarski. Die Possehl-Stiftung teilte den LN dazu mit, dass sie – gemeinsam mit der Hamburger Zeit-Stiftung Bucerius – die notwendigen Voruntersuchungen zur Sanierung ermögliche.
„Die Ergebnisse der Voruntersuchungen zur denkmalgeschützten Mauer und den Gebäuden des Friedhofs können dann in einen Antrag der jüdischen Gemeinde zur Durchführung der Sanierung einfließen“, heißt es weiter von der Stiftung. „Dieser Antrag wird Grundlage der Entscheidung über eine weitere Förderung durch die Stiftung sein.“ Eine Rettung der Anlage scheint im Bereich des Möglichen zu sein.