Schockanrufe: So werden
die Opfer ausgesucht

Kriminelle nutzen gezielt Todesanzeigen – Ermittler verhinderten noch größere Schäden

Ältere Menschen sind häufig Opfer so genannter Schockanrufe. Aus mobilen Call-Centern in Polen werden sie angrufen und zur Herausgabe größerer Summen bewegt.Foto: Sabinevanerp/Pixabay
Eutin/Berlin. Erst kürzlich war Lübeck wieder dran: Innerhalb weniger Tage erbeuteten Betrüger durch Schockanrufe 40.000 Euro. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Anrufe aus Polen kamen. Dort verortet die Polizei die mobilen Callcenter, aus denen die „Keiler“, so nennen die Ermittler die Anrufer, fast im Akkord Nummern abtelefonieren. Mal wird es in Bayern oder Nordrhein-Westfalen versucht, dann wieder in Schleswig-Holstein. Einer, der seit Jahren auf diese Straftaten spezialisiert ist, ist Sebastian Höhlich vom Landeskriminalamt Berlin.Der Kriminalhauptkommissar ist an einem internationalen Netzwerk-Projekt beteiligt, das zumeist gegen nach außen abgeschottete„Familienverbände“ im Nachbarland vorgeht, die offenbar für einen Großteil der Taten verantwortlich sind.Die Ermittler des speziellen EU-Projekts ISF Lumen, an dem Behörden aus acht europäischen Ländern und allen Bundesländern mitwirken, sind innovativ. Sie bündeln trotz föderalistischer Hürden Kräfte und sind deswegen erfolgreich. Die SÄM-Experten − SÄM steht für „Straftaten gegen ältere Menschen“ − tauschen sich jährlich im Rahmen von mehrtägigen Konferenzen aus. Auch LKA-Ermittler aus Kiel sind dabei. Insgesamt wurde seit 2023 ein Schaden von 9,8 Millionen Euro verhindert. „Und wir haben 588.000 Euro zurückerlangt“, sagt Höhlich.

Durch koordinierte Aktionen seien 61 Personen festgenommen worden. 23 der dringend Tatverdächtigen und mittlerweile teilweise Verurteilten fungierten als hochrangige Logistiker in Polen, die genannten „Keiler“. Entscheidend für den Fahndungserfolg waren koordinierte Einsätze, etwa in Posen oder Warschau: sogenannte „Action Weeks“. Die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Kollegen hinter der EU-Grenze funktioniert deswegen so gut, weil der Übergang zwischen Polnisch und Deutsch fließend läuft. In Höhlichs Team arbeiten mehrere Muttersprachler aus dem Nachbarland.

Doch auch die Täter passen sich schnell an: Waren nach den ersten Zugriffen im November und Dezember 2023 deren Strukturen monatelang zerschlagen, stellten sie sich bereits nach weiteren Polizei-Aktionen Ende 2024 besser darauf ein. Die Anrufe aus mobilen Callcentern, etwa in Hotelzimmern, nahmen schnell wieder zu.

Das Zeitfenster, in dem sich digitale Spuren der Anrufe sichern lassen, ist klein, zumindest in Deutschland. Große Telekommunikationsanbieter wie die Telekom oder Vodafone speichern Verbindungsdaten in vielen Fällen nur sieben Tage lang. Was den Tätern nutzt, heißt für die Ermittler: Tempo. Auch deswegen ist es wichtig, auch versuchte Schockanrufe sofort anzuzeigen.

Dass dafür, wie häufiger berichtet, Künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz kommt, kann der Berliner Sebastian Höhlich „nahezu ausschließen“. Der Aufwand sei zu groß. Er berichtet aber von einem anderen Vorgehen: „Es werden gezielt Todesanzeigen genutzt, um an die Vornamen der Kinder zu kommen“. Angerufen werde mitunter auch in zeitlicher Nähe zur Beerdigung oder Trauerfeier. Die „Berufsverbrecher“ seien skrupellos. Als Abholer werden auch in Deutschland immer wieder nicht strafmündige Jugendliche unter 14 Jahren eingesetzt. Und es gibt Opfer, die mehr als einmal auf die Betrüger hereinfielen.

Deswegen bleibt die Polizei hartnäckig und ermittelt in beiden Richtungen erfolgreich: Erst Ende April zerschlugen Höhlich und seine Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Warschau ein Callcenter in Bochum. Drei Tatverdächtige wurden verhaftet. Sie hatten vor allem ältere Menschen in Polen angerufen. und jsch
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