„Das war dramatisch“, berichtet Erika Schlichtings Tochter, Martina Grell. Sie und ihr Mann waren an dem Tag nicht zuhause, kehrten erst abends zurück. „Da war bei beiden der Schock über den Vorfall zu spüren und darüber, dass es nur um Haaresbreite gut gegangen ist“, sagt sie.
Ihre Mutter hatte vor zehn Jahren einen schlimmen Unfall, seitdem ist sie gelähmt und hat nur ein Bein. Erika Schlichting kann außerdem kaum noch sehen und muss mehrfach in der Woche zur Dialyse. Sie wird rund um die Uhr von einem Team aus sechs Pflegekräften betreut.
Gern macht sie mit ihnen ausgedehnte Spazierfahrten. „Bei Wind und Wetter“, sagt die Seniorin. Mit ihrer Pflegerin Mandy Haase wollte sie vor Kurzem die übliche Runde von Kesdorf über Woltersmühlen und Ottendorf zurück nach Hause machen.
Der Bahnübergang Woltersmühlen hat eine leichte Anhöhe. Pflegerin Mandy Haase schob den Pflegerollstuhl hinauf. „Möglicherweise lag dort ein Stein, der dazu geführt hat, dass sich das rechte Vorderrad verkantet hat und in den Zwischenraum neben der Bahnschiene geraten ist“, sagt sie. „Jedenfalls stand der Rollstuhl schief und saß fest. Und dann gingen die Schranken runter.“
Erika Schlichting sagt: „Ich glaube, ich hab geschrien: Mandy, hol mich hier raus.“ Ihre Pflegerin nickt und sagt: „Ich hatte bestimmt Panik, habe aber einfach funktioniert.“ Beim Rütteln und Ruckeln, um das Vorderrad herauszuziehen, verkeilte sich dann auch noch der Kippschutz des Rollstuhls in den Speichen des Hinterrads. Doch dann hatte die Pflegerin Erfolg und konnte Erika Schlichting im Rollstuhl hinter die Schranke bugsieren. „Und dann kam auch schon der Zug aus Eutin“, sagt sie rückblickend. Erika Schlichting ergänzt trocken: „Der Zug war jedenfalls mal schnell da.“ Auch wenn ihr beim Erzählen zwischendurch mal die Tränen kommen, erklärt sie bestimmt: „Es ist passiert, und alles ist gut gegangen.“ Ihren Humor hat sie sich trotz allem bewahrt. „Wir haben es überlebt, wir nerven die Leute weiter“, gibt sie ihrer Pflegerin als Maßgabe vor.
Mandy Haase ist sehr erschrocken darüber, dass das Rad genau in den Zwischenraum neben der Bahnschiene passt. Sie denkt an alle Rollstuhlfahrer, Menschen, die Rollatoren benutzen, an Buggys. „Ich hätte es nicht gedacht, dass das geht. Wir möchten andere warnen, das kann ihnen auch passieren“, sagt Martina Grell.
Der Vorfall habe ihre Familie und das Pflegeteam eine ganze Weile aufgemischt, sagt Martina Grell. Ihr Mann und sie sind mit dem Süseler Pastor Matthias Hieber befreundet, der auch Notfallseelsorger ist. „Er hat uns ein Gespräch angeboten. Meine Mutter und Mandy fanden es jeweils für den anderen wichtig“, sagt sie lachend, „und ich brauchte es für mich.“ Sie hätten dabei gelernt, „dass es normal ist, wenn die Gedanken mal wieder hochkommen. Aber sie dürfen nicht unseren Alltag beherrschen.“
Erika Schlichting und Mandy Haase wollen die gewohnte Runde künftig wieder drehen. „Ich werde sie dann aber rückwärts über den Bahnübergang ziehen“, sagt die Pflegerin. Martina Grell hat sich vorgenommen, die Deutsche Bahn anzuschreiben und sie auf die spezielle Gefahrenquelle an Bahnübergängen aufmerksam zu machen.