„Es geht doch nicht darum, wer man ist, sondern wer man sein will. Und ich spüre es einfach ganz deutlich: Ich bin Künstler!“
Hans-Günther rollte abwertend mit den Augen. „Dieses hässliche Gekritzel? Das ist doch keine Kunst, das ist schauerlich. Kümmere´ dich lieber ums neue Navi. Wir haben für heute Abend so viele neue Adressen zum Geschenke-Ausliefern erhalten. Wenn wir da keine schlaue Route finden, werden sehr viele Kinder traurig sein.“Rudolf kratzte sich kurz das Fell und malte seelenruhig weiter.
„Nicht, dass du uns schon wieder in ’ne Sackgasse führst, so wie letztes Jahr“, sagte Hans-Günther spöttisch. „Orientierung war ja noch nie so deine Stärke.“
„Mach du das doch, wenn du alles besser weißt“, erwiderte Rudolf patzig.Plötzlich leuchteten Hans-Günthers Augen hell auf. „Wirklich? Das dürfte ich tun?“„Meinetwegen.“
Auf einmal ging die Tür auf und der Weihnachtsmann trat ungeduldig in den Raum. „Was ist denn hier los?“, fragte er irritiert? „Wer hat denn diese Sauerei angerichtet?“ Er schüttelte verärgert den Kopf.Hans-Günther schaute zum Weihnachtsmann hinüber und sagte: „Rudolf hat sein Talent als Künstler entdeckt.“ Beide schaute sich an und verfielen in schallendes Gelächter.„So, nun aber zackig. Wir müssen gleich los. Die letzten Geschenke werden auf den Schlitten verladen. Dann können wir Euch einspannen.“ Mit großen Schritten verließ der Weihnachtsmann den Raum. Hans-Günther folgte ihm.Heimlich packte Rudolf sein Lieblingsbild ein und schmuggelte es mit auf den Geschenkewagen. Ihm war egal, was die anderen über ihn dachten. Er spürte, dass ihm das Malen guttat. Das war das Wichtigste. Irgendjemand würde seine Kunst einmal zu schätzen wissen, das wusste er genau.
Hans-Günther war unheimlich aufgeregt, als er als erstes Rentier vor den Weihnachtsmann-Schlitten gespannt wurde und für den heutigen Abend die Leitung übernehmen durfte. Kurz vor Abflug drehte er sich kurz nochmal zu seinem Freund Rudolf um. „Rudi, es tut mir leid, dass ich vorhin etwas gehässig zu dir war. Ich wollte mich aber bei dir bedanken. Ich habe immer davon geträumt einmal den Schlitten zu leiten. Dank dir darf ich es heute tun. Danke.“ Rudolf nickte und freute sich, dass er seinem Kollegen einen Gefallen tun konnte. Außerdem träumte er unentwegt von seiner weiteren Karriere als Künstler.Gertrud saß am Kamin in ihrer Wohnung in der Königstraße. Von draußen hörte sie Kinderlachen und Gesang. Sie hatte nur einen kleinen Weihnachtskranz in ihrem Wohnzimmer aufgestellt, da sie heute an Heiligabend keinen Besuch erwartete. Eine leichte Traurigkeit überfiel sie.
Kurzerhand ging in die Küche, um sich einen frischen Ingwertee zu machen. Ein Poltern in der Wohnstube ließ sie aufhorchen. Sogleich lief sie in das Zimmer und entdeckte ein großes Paket neben ihrem Kamin. Es war miserabel eingepackt. Wie es plötzlich neben ihrem Kamin auftauchen konnte, war ihr schleierhaft. Unsicher griff sie nach dem Geschenk und packte es aus. Es war ein Bild – eine kleine Leinwand, um genau zu sein. Die Farben waren leuchtend bunt und abstrakt, doch sie war sich ganz sicher: es zeigte das Holstentor. „Donnerwetter, was für ein Meisterwerk“, sagte sie ungläubig. Ihr Blick fiel auf die Initialen. Ein simples „R“ zierte die rechte untere Ecke. „Noch nie gehört, aber das Bild gefällt mir“, murmelte sie vergnügt. Überglücklich hängte sie das Bild an die Wand. Sogleich erfüllte sie eine herrliche Weihnachtsstimmung. Sie war sich sicher: Das war ein Zeichen!