Sie hat diesen Moment seit ihrem Amtsantritt 2021 herbeigesehnt. Endlich gibt es in ihrem Bundesland dieses Angebot. 14 andere Bundesländer haben es schon länger. Gleichzeitig macht sie deutlich: „Es ist ein Menschenrecht – und kein Goody.“
Damit verweist sie auf Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention. In ihm steht, dass gesundheitsbezogene Versorgungsangebote vorgehalten werden müssen, die Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Einschränkungen benötigen. Und schon vor neun Jahren ist in Deutschland die gesetzliche Grundlage zur Schaffung von Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) geschaffen worden.
Rund 50 dieser Zentren sind bundesweit entstanden. Aber was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Dazu der Chef des Uniklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), Prof. Jens Scholz: „In unserem neuen Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit Behinderungen sollen Patientinnen und Patienten mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung gezielter und bedarfsgerechter versorgt werden können. Insbesondere, wenn sie Beschwerden oder Erkrankungen zeigen, die die Grenzen einzelner Fachrichtungen überschreiten.“
Geleitet wird die Einrichtung von den Fachärzten für Neurologie, Prof. Tobias Bäumer und Dr. Sebastian Löns. Um das große Plus des Angebotes verständlicher zu machen, schildert Löns ein Beispiel aus dem Alltag.
„Ende vergangener Woche war wieder ein junger Mann von der Westküste mit seinen Eltern bei uns, den wir schon seit dem Jugendalter kennen. Er hat eine schwere Mehrfachbehinderung, sitzt im Rollstuhl, kann nicht sprechen, seine Beine sind angewinkelt, und er hat eine verdrehte Körperhaltung“, schildert der Mediziner den komplexen Fall. Der Patient sei schon mit einer dauerhaften Medikamentenpumpe versorgt. „Und mit dieser Pumpe kam man in der Klinik vor Ort nicht mehr zurecht, sodass er in unserer Ambulanz vorstellig wurde“, sagt Löns.
Am meisten plagten ihn starke Schmerzen im Arm, habe das Gespräch mit den Eltern ergeben. Die Therapie der Wahl bei neuropathischen Schmerzen, eine Behandlung mit Botox, sei dann jedoch nicht erfolgreich gewesen.
„Also haben wir den Rat weiterer Kollegen und Kolleginnen aus anderen Fachrichtungen – wie unter anderem Physiotherapie, Orthopädie und Radiologie – gesucht und den Fall in unserer interdisziplinären Sprechstunde vorgestellt. In der Runde saß auch ein Orthopädietechniker, der gleich analysierte, dass der Patient einen anderen Rollstuhl sowie ein Korsett benötige. Und damit war die Lösung zum Wohle des Patienten gefunden“, sagt der Neurologe.
Dass der Lübecker Standort des UKSH und nicht der Kieler den Zuschlag bekommen hat, ist der vorhandenen Expertise zu verdanken. Prof. Tobias Bäumer erklärt: „Vor zehn Jahren haben wir das Zentrum für Seltene Erkrankungen aufgebaut und damit eine interdisziplinäre Struktur etabliert, die es ermöglicht, komplexe diagnostische Herausforderungen besser zu meistern.“
Er fügt hinzu: „Was wir dort lernen konnten, ist, dass es für die Stellung einer korrekten Diagnose viel effektiver ist, sich mit allen Beteiligten einmal an einen Tisch zu setzen und alles auszudiskutieren, statt dem Patienten den üblichen Staffellauf durch alle medizinischen Disziplinen zuzumuten.“
Damit das MZEB starten kann, hat das Land eine halbe Million Euro hinzugeschossen. „Für eine umfassende Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sorgen sozialpädiatrische Zentren. Ab der Volljährigkeit bietet jetzt das MZEB als erste Einrichtung ein Folgeangebot. Es wurde Zeit, diese Lücke zu schließen“, sagt Kiels Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken.
Bald sollen die Umbauarbeiten des Hauses 23 auf dem Campus beginnen. „Wir arbeiten übergangsweise in den Räumen der Klinik für Neurologie. Nach dem Umbau verfügen wir dann über fünf neue Behandlungsräume, sodass wir fünf Patienten parallel sehen können“, sagen Bäumer und Löns. Sie rechnen mit rund 800 Patienten pro Quartal. Ab sofort können Menschen mit geistiger Behinderung oder körperlicher Mehrfachbehinderung und einem Grad der Schwerbehinderung von mindestens 70 Prozent von ihrer Ärztin oder ihrem Arzt ans MZEB überwiesen werden.