Natürlich hoffe man, dass die Grenzwerte eingehalten werden, wenn ein Staatsunternehmen baue, erzählt die Mutter einer 18-jährigen Tochter. Das Problem ist: Während meterhohe Wände den Lärm des Schienenverkehrs verringern können, sind sie gegen den sekundären Luftschall machtlos. Er entsteht durch Erschütterungen von der Schiene, die über das Erdreich und die Häuserfundamente Schwingungen der Decken und Wände verursachen.
Ein Gutachten zu Erschütterungen, das die Stadt beauftragt hat, kommt zum Ergebnis, dass mehr als 100 Wohnhäuser nachts oberhalb der zulässigen Grenzwerte liegen. Es sind also nicht nur Nicole Kuns, ihre Tochter und eine Handvoll Menschen betroffen. „Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von Schlafstörungen und führt zu einer Gefährdung der Gesundheit im maßgeblichen Umfang“, sagt Bernhard Schmidt aus dem städtischen Bauamt.
Für Kuns ist das Vorgehen der Bahn unverständlich: „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind doch eindeutig. Warum gibt es keine andere Lösung, als Güterzüge durch Wohngebiete fahren zu lassen?“ Kuns hat ihr Haus ausgebaut und zum Teil vermietet. „Das ist meine Altersvorsorge“, sagt sie bestimmt und spricht von „vielen Existenzen, die in Gefahr sind“. Nicht zuletzt gehe es auch um die zukünftige Entwicklung des Wohngebiets, sagt sie und hält kurz inne. Würden die Pläne so umgesetzt, werde der Stadtteil sicherlich aussterben.
Doch das Ausmaß der Betroffenheit ist wohl noch höher. Das besagte Gutachten basiert auf Verkehrszahlen von 2018. Damals sei die Bahn davon ausgegangen, dass 21 der 70 Güterzüge nachts fahren. Jetzt plane man, den Großteil zwischen 22 und 6 Uhr abzuwickeln, erklärt Schmidt. Wie viele Fahrten werden es am Ende sein? Der Bauingenieur zuckt mit den Schultern und sagt: „Wir wissen es nicht.“ Klar ist: Bahn und Nah.SH wollen tagsüber freie Fahrt für den Personenverkehr. „Das passiert dann auf Kosten der Menschen, die in der Nähe der Bahnschienen wohnen“, betont Bürgermeisterin Katrin Engeln (Grüne).
Zu ihnen gehören auch Rolf Sell und seine Frau Heike. Sie wohnen „eher in der zweiten Reihe“, wie er sagt. Familie Sell hat 1982 gebaut. Sie sind Bewohner der ersten Stunde. „Damals war die Straße noch nicht befestigt“, erzählt der 76-Jährige. Das Ehepaar kennt die Zeit, als der Schienengüterverkehr noch zu Bad Schwartau gehörte. Seit Eröffnung der Fehmarnsundbrücke 1963 bis 1997 wurden Waren auf der Vogelfluglinie transportiert. „Jeden einzelnen Güterzug haben wir gespürt. Das wünschen wir uns nicht zurück“, erzählt er mit nervöser Stimme und blickt auf die Kristallgläser im Schrank. „Sie fingen an, durch die Vibrationen zu wandern. Die mussten wir regelmäßig zurechtrücken oder beschädigt austauschen.“ Besonders besorgt sei er wegen der Länge der Züge. „Über 800 Meter? Damals waren sie deutlich kürzer.“ Sell weiß – die Dauer der Erschütterungen wird dann länger sein.
Mittlerweile wird deutlich, dass die Leidensfähigkeit von deutlich mehr Bad Schwartauern getestet wird. Anwohner in 210 Häusern werden über Gebühr belastet – das bestätigt die Bahn. Engeln sagt: „Die Zahlen der Bahn sind eindeutig. Güterverkehr durch Bad Schwartau fahren zu lassen, ergibt keinen Sinn.“ Die Verwaltungschefin spielt auf die sogenannte X-Trasse an: die Umfahrung Bad Schwartaus. Der Weg über Lübeck-Dänischburg sei im Raumordnungsverfahren 2014 unter falschen Voraussetzungen verworfen wurden, erklärt Schmidt. Die Option soll deshalb wieder auf den Tisch.
Eine Befassung im Rahmen der Planungen sei zudem rechtlich notwendig, betont Schmidt und erzählt: Die Deutsche Bahn habe zugesagt, die Umfahrung doch noch zu prüfen. Ob das etwas an den Plänen des Verkehrsunternehmens zu ändern vermag? Schmidt ist skeptisch. „Die X-Trasse würde das Problem der Gesundheitsgefährdung durch die Güterzüge komplett lösen“, betont Engeln.
„Die Umfahrung wäre unser großer Wunsch“, sagt Sell und gesteht: „Ich habe wenig Hoffnung.“ Der 78-Jährige lächelt zerknirscht und versucht es erst mit Galgenhumor: „Hoffentlich dauert es bis zur Eröffnung länger, dann sind wir reif fürs Altersheim.“ Dann sagt er mit ernster Miene: „Nur unser Haus ist dann nichts mehr wert. Wer will denn hierher?“