Klimakrise und Overtourism: Schämen fürs Reisen?
Die Klimakrise ist in aller Munde, das Coronavirus breitet sich aus, aber wir reisen ungeniert weiter. Ist das richtig so? Der reisereporter hat mit einem Reiseforscher über das Reisen im Jahr 2020 gesprochen.

Tourismus-Forscher Jürgen Schmude erforscht seit Jahren unser Reiseverhalten. Foto: Insel Mainau/Tobias Mayer
Klimakrise, Coronavirus und Terror – gefühlt wird Reisen immer unsicherer. Aber ist das eigentlich wirklich so? Darüber haben wir mit dem renommierten Reiseforscher Jürgen Schmude gesprochen. Der Tourismusexperte erforscht seit Jahren, wie sich unser Reiseverhalten entwickelt. Er erzählt im Interview unter anderem, wie sicher es ist, heute zu reisen, und wie unsere Öko-Bilanz beim Reisen eigentlich ausfällt.
Herr Schmude, Sie erforschen die Entwicklung unseres Reiseverhaltens. Können Sie sagen, was das Coronavirus mit dem Tourismus macht?

Jürgen Schmude:
 Auf den asiatischen Markt hat das Coronavirus mit Sicherheit große Auswirkungen, das sehen wir ja bereits jetzt. Und auch in Deutschland fehlen die chinesischen Touristen, die machen auf das Jahr gesehen allerdings lediglich ein Prozent des gesamten Incoming-Tourismus aus.

Negative Nachrichten vermitteln auch immer das Gefühl von Unsicherheit. Wie wichtig ist Sicherheit für Reisende heutzutage?
Jürgen Schmude: Sicherheit ist seit 2001 einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf das Reiseverhalten der Menschen. Ausschlaggebend dafür waren zunächst die Anschläge von 9/11. Durch weitere Terroranschläge in Urlaubsregionen, Pandemien und technische Pannen hat sich Sicherheit als eines der wichtigsten Kriterien bei der Wahl des Reisezieles etabliert.

Wie ändern sich Reisepläne, wenn der Zielort gerade nicht sicher ist?
Jürgen Schmude:
 Wer sich für seinen Urlaub vor allem Sonne, Strand und Meer wünscht, der hat wirklich viele Reiseziele zur Auswahl. Am Ende ist es den meisten Leuten dann auch egal, ob sie in der Türkei, in Spanien oder Ägypten am Strand liegen.
Gibt es denn aktuell typische Reiseziele, bei denen Sie akute Sicherheitsbedenken haben?
Jürgen Schmude:
 Die Katastrophenjahre des Tourismus sind vorüber. Die Anschläge aus 2015 und 2016 haben ihre abschreckende Wirkung weitgehend verloren. Aber das kann sich schnell ändern. Bei einem neuen Anschlag in einem Touristengebiet würde auch die Anspannung der Reisenden wieder wachsen.
Sicherheit ist für Reisende also wichtig. Aber wie sieht es mit Nachhaltigkeit aus?
Jürgen Schmude:
 Offen gesagt wirkt sich die Klimadebatte auf das Reiseverhalten 2020 nicht im Geringsten aus. Nachhaltigkeit ist ein Alltagsthema, kein Urlaubsthema. Konkret sieht das dann so aus: Zu Hause wird streng der Müll getrennt und dann steigt man doch wieder ungeniert in den Flieger.
Jetzt könnte man aber durch die vielen Demonstrationen und Nachhaltigkeits-Initiativen den Eindruck bekommen, dass die Leute eigentlich langsam verstehen, worum es bei der Klimadebatte geht.
Jürgen Schmude:
 Das Bewusstsein ist da, aber es folgt keine Verhaltensänderung. Das sehe ich auch bei meinen Studierenden: Sie reisen alle weiter, wie bisher. Aber sie kennen es ja nicht anders, sind mit offenen Grenzen und vielen Möglichkeiten aufgewachsen.
Also sind wir – überspitzt gesagt – einfach sture Wesen, die nichts dazulernen?
Jürgen Schmude:
 Ich setze große Hoffnung auf die heutige Schülergeneration. Sie werden mit Fridays for Future sozialisiert und wachsen mit einem anderen Umweltbewusstsein auf als die Generationen vor ihnen. Sie werden das nachhaltige Reisen vielleicht auf eine neue Stufe heben.Die Klimadebatte hat aber auch dazu geführt, dass der Begriff „Reisescham“ oder „Flugscham“ immer häufiger auftaucht. Aber sollten wir uns dafür schämen, etwas von der Welt sehen zu wollen?
Jürgen Schmude:
 Natürlich muss sich niemand fürs Reisen schämen. Im Gegenteil: Reisen ist ja etwas Schönes. Aber man sollte es eben mit Köpfchen tun und darüber nachdenken, ob es wirklich notwendig ist, dreimal im Jahr zu fliegen.Sich etwa zu fragen, ob der Junggesellenabschied in Las Vegas, der Shoppingtrip nach Mailand und der Wellnessurlaub in Norwegen wirklich notwendig sind oder ob eine Zugreise, die dafür aber etwas länger dauert, nicht auch ausreicht.

Halten Sie es für sinnvoll, die Nicht-Reisenden vom Gegenteil überzeugen zu wollen?

Jürgen Schmude:
 Der Tourismus braucht nicht zu versuchen, Leute vom Reisen zu überzeugen, die kein Interesse an der Aktivität haben. Vielmehr sollte es mehr Angebote für Menschen geben, die aus finanziellen, gesundheitlichen oder strukturellen Gründen nicht reisen können. Denn ich finde, wer reisen möchte, sollte grundsätzlich auch die Möglichkeit bekommen.

Hat es vielleicht auch was Gutes, dass nicht jeder das Reisen für sich entdeckt hat?
Jürgen Schmude:
 Nun ja. Vielleicht sind Nicht-Reisende am Ende ja sogar die besseren Reisenden, wenn man an die Klimakrise denkt.
Jetzt beschäftigen Sie sich bei der Arbeit viel mit Reisen. Machen Sie privat auch Urlaub?
Jürgen Schmude:
 Klar. Ich bin derzeit auf Juist im Urlaub. Hier ist es schön ruhig, die Insel ist nachhaltig und vom Massentourismus noch nicht betroffen. Perfekt also für eine kleine Auszeit im Februar.
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